Sylt in der Weihnachtsnacht 1717: Als die Jahrhundert-Sturmflut das Jöölfest verschlang
Sylt. Es ist die Geschichte eines Heiligabends, an dem die Glocken nicht zur Freude läuteten, sondern im Sturm erstickten. Wenn wir heute auf Sylt Weihnachten feiern, mit Lichterglanz und sicher hinter modernen Deichen, vergessen wir oft, wie zerbrechlich das Leben auf der Insel einst war. Die Weihnachtsflut von 1717 markiert bis heute das traumatische Ur-Ereignis der Inselschutz-Geschichte. Dies ist das Protokoll jener Nacht, in der die Nordsee beschloss, die Insel zu teilen.
16:00 Uhr: Das letzte friedliche „Jööl“
Am Nachmittag des 24. Dezember 1717 liegt eine trügerische Stille über den Reetdachkaten von Archsum, Morsum und Keitum. Weihnachten auf Sylt ist damals noch kein Fest der Geschenke. Es gibt keinen Tannenbaum – Holz ist zu kostbar. Man feiert das friesische „Jöölfest“.
In den niedrigen Stuben, den Peseln, haben die Frauen den „Jööl-Disch“ gedeckt. Es ist der heiligste Moment des Jahres. Auf dem Tisch liegen, streng nach Tradition, ein großer Laib Brot, geräuchertes Fleisch und vielleicht ein Krug Bier. Die einzige Lichtquelle sind Talgkerzen, die rußend gegen die früh einbrechende Dunkelheit ankämpfen. Die Familien rücken nah an den „Bilegger“, den Wandofen, heran. Man fühlt sich geborgen. Draußen weht ein steifer Wind aus Südwest – nichts Ungewöhnliches für Sylter Verhältnisse.
18:30 Uhr: Der Verrat des Windes
Die Stimmung kippt, als die Dämmerung in tiefschwarze Nacht übergeht. Alte Fischer hören es zuerst am Singen des Reets: Der Wind dreht. Er springt von Südwest auf Nordwest. Für die Nordseeküste ist das das Todesurteil. Der Wind drückt nun nicht mehr am Land vorbei, er drückt die Wassermassen des Atlantiks direkt in die Deutsche Bucht hinein, wie in einen Trichter.
Der Pegel in den Prielen steigt rasend schnell. Das Niedrigwasser fällt aus. Stattdessen schiebt der Orkan, der nun mit Stärke 12 über die Insel peitscht, eine zweite Flutwelle auf die erste.
22:00 Uhr: Die trügerische Sicherheit der Deiche
Die Bauern in der Marsch der Nösse-Halbinsel (der Ostteil Sylts) werden unruhig. Ihre Deiche sind nach heutigem Standard winzig: Sogenannte „Stackdeiche“, kaum vier Meter hoch, steil aufragend und oft nur mit Holzplanken und Stroh gegen den Wellenschlag gesichert.
Gegen 22 Uhr erreicht das Wasser die Deichfüße. Aber es stopptt nicht. Die Wellen klatschen nicht mehr dagegen, sie lecken bereits über die Kronen. Die Nordsee hat sich auf über 5 Meter über Normalnull aufgebäumt. Das Wasser steht somit schlichtweg einen Meter höher als der höchste Schutzwall der Insel. Es ist ein mathematisch unausweichliches Todesurteil für das Land dahinter.
00:00 Uhr: Die Apokalypse zur Geisterstunde
Exakt um Mitternacht, als man eigentlich die Geburt Christi feiern sollte, brechen die Dämme. Es ist kein punktueller Durchbruch. Die See läuft auf breiter Front über die Deiche der Nösse. Mit einem grollenden Donnern, das selbst den Sturm übertönt, stürzen die Wassermassen in die tiefer gelegenen Marschgebiete von Archsum.
Das Wasser kommt als Sturzflut. Eiskalt. Salzig. Schwarz.
01:30 Uhr: Das stille Sterben in den Ställen
Für die Menschen gibt es Rettung: Die Sylter Bevölkerung flüchtet in panischer Angst aus den Häusern der Niederungen hinauf auf den Geestkern. Dieser eiszeitliche Erdhügel, auf dem Keitum, Tinnum und Westerland liegen, ragt wie eine Insel auf der Insel aus den Fluten.
Doch für die Tiere gibt es kein Entkommen. In den Ställen, die fest verriegelt sind, um die Winterkälte draußen zu halten, bricht das Wasser ein. Tausende Schafe und Rinder stehen im Dunkeln, eingepfercht, während das Wasser ihnen bis zum Hals und schließlich darüber hinaus steigt.
Draußen auf den Weiden ist das Szenario noch grausamer: Orientierungslos im Orkan versuchen die Tiere zu fliehen. Doch der Boden unter ihren Hufen wird zu Schlamm, dann zu reißender Strömung. Sie werden einfach weggespült. Die Menschen auf dem Geesthügel hören das Brüllen und Blöken im Wind – und müssen tatenlos zuhören, wie ihre Existenzgrundlage ertrinkt.
08:00 Uhr: Ein Weihnachtsmorgen in Grau
Der 25. Dezember 1717 offenbart das ganze Ausmaß. Als das fahlgraue Licht des Morgens über Sylt kriecht, blicken die Überlebenden nicht auf weiße Weihnachten, sondern auf eine bleierne Wasserwüste.
Wo gestern noch fruchtbares Marschland war, brandet die Nordsee. Die Nösse ist fast vom Rest der Insel abgetrennt. Hausrat, Holzbalken und unzählige Tierkadaver treiben im Wasser. Das Salzwasser hat sich tief in den Boden gefressen und wird ihn für Jahre unfruchtbar machen.
Es gibt an diesem Tag keine Toten unter den Syltern zu beklagen – ein Wunder im Vergleich zum Festland, wo Tausende starben. Doch die Weihnachtsflut hat der Insel ihre Unschuld genommen. In den Kirchen wird an diesem Tag nicht gejubelt. Man sitzt zusammen, nass, frierend und arm, und dankt Gott für das nackte Leben, während draußen die See immer noch gierig nach dem Land greift.



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