Der lange Schatten der 80er: Als Sylt den Atem anhielt – Ein Rückblick und Vergleich
Wer heute über den „Ausverkauf der Insel“ oder den Mangel an dauerhaftem Wohnraum diskutiert, sollte einen Blick in die Annalen der Inselgeschichte werfen. Ein Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vom Februar 1984 zeichnet das Bild einer Zeit, in der die Sylter Identität auf eine harte Probe gestellt wurde. Damals wie heute ging es um die Frage: Wem gehört die Insel? Doch die Dimensionen, mit denen ein Unternehmer aus Bottrop vor über 40 Jahren antrat, lassen selbst heutige Entwicklungen in einem besonderen Licht erscheinen.
Die „Invasion“ aus dem Ruhrgebiet
In den frühen 1980er Jahren wurde die Inselgemeinschaft mit einer aggressiven Expansionsstrategie konfrontiert, die viele Insulaner als Bedrohung ihrer Existenzgrundlage empfanden. Im Fokus stand Wolfgang Reh, ein Unternehmer aus Bottrop, der innerhalb von rund drei Jahren Immobilien in einem bis dato ungekannten Ausmaß akquirierte. Sein Portfolio umfasste zu diesem Zeitpunkt bereits über hundert Häuser und Grundstücke zwischen List und Hörnum, darunter prominente Hotels wie das „Sylt Plaza“ oder den „Sylter Hof“. Doch damit nicht genug: Auch die lokale Infrastruktur, von einem Taxiunternehmen mit 20 Fahrzeugen bis hin zur Kurklinik und einer Autovermietung, ging in seinen Besitz über.
Aus Sylter Sicht wirkte dieses Vorgehen wie eine feindliche Übernahme. Der damalige Westerländer Bürgermeister Volker Hoppe äußerte gegenüber Gewerbetreibenden die Befürchtung, dies könne „den Tod der Insel“ bedeuten. Die Stimmung war aufgeheizt: In den „Sylter Bürgerstuben“ hingen Gedichte aus, die den Verlust der Existenz an einen „Fremden“ beklagten.
Das Geschäftsmodell: Masse und Rendite
Das damalige Konzept unterschied sich deutlich vom heutigen, oft auf Exklusivität bedachten Immobilientourismus. Das Ziel war, durch massive Werbung im Ruhrgebiet neue Käuferschichten zu erschließen und Touristen per Sonderflug und Bus auf die Insel zu bringen. Die erworbenen Immobilien wurden kleinteilig in Mini-Appartements parzelliert, ausgestattet mit für die damalige Zeit modernen Annehmlichkeiten wie Videorecordern.
Kritisch beobachteten lokale Experten wie der Immobilienmakler Reinhold Riel die Preisgestaltung. Objekte wurden teils zu Summen angeboten, die als „absolut unrealistisch“ bewertet wurden. Ein Beispiel aus der Westerländer Süderstraße verdeutlicht die Dynamik: Ein Einfamilienhaus, 1981 für rund 700.000 Mark erworben, wurde nach Umbau und Zwischenverkäufen 1983 für fast 2,6 Millionen Mark veräußert. Den Käufern wurden dabei Renditemodelle mit Mietgarantien in Aussicht gestellt, die laut Der Spiegel eine Auslastung erfordert hätten, die wetterbedingt auf Sylt kaum realisierbar erschien.
Widerstand der Inselgemeinschaft
Anders als heute, wo der Protest oft in politischen Gremien oder sozialen Medien stattfindet, war der Widerstand 1984 physisch und direkt spürbar. Es gab Demonstrationen am Bahnhof bei der Ankunft von Reisegruppen, und Fahrzeuge sowie Briefkästen wurden mit Aufklebern versehen, die den Slogan „Reh nee wa plüh“ (friesisch angelehnt an „Rien ne va plus“) trugen. Auch die Kommunen wehrten sich: Die Gemeinde Rantum lehnte den Verkauf eines gemeindeeigenen Gasthauses ab, um sich nicht am „allgemeinen Ausverkauf“ zu beteiligen, und Westerland vergab den ehemaligen Kindergarten an einen anderen Bewerber, obwohl das Angebot aus Bottrop deutlich höher lag.
Der Vergleich: 1984 und Heute
Blickt man von 2025 zurück auf diese turbulenten Jahre, zeigen sich interessante Parallelen und Unterschiede:
- Strukturwandel vs. Regulierung: Während in den 80ern die Umwandlung von Häusern in Ferien-Mini-Appartements oft durch einfache Baumaßnahmen vollzogen wurde – teils bis zur behördlichen Stilllegung durch die Stadtverwaltung –, greifen heute auf Sylt deutlich strengere Erhaltungssatzungen und Bebauungspläne. Der Schutz von Dauerwohnraum ist mittlerweile gesetzlich und kommunalpolitisch stärker verankert, um genau solche Parzellierungen zu verhindern.
- Preisspirale: Die damals als exorbitant empfundenen Preissteigerungen (Verdopplung oder Verdreifachung des Einstandspreises binnen kurzer Zeit) waren Vorboten der heutigen Immobilienpreisentwicklung. Der Unterschied liegt in der Marktbreite: War es damals ein einzelner Akteur, der den Markt dominierte, ist das hohe Preisniveau heute ein strukturelles Merkmal der Insel, getrieben von einer Vielzahl externer Investoren.
- Art des Tourismus: Die Angst der Sylter Zimmervermieter vor einem „Tourismus mit der Brechstange“ und einem Abrutschen zum „Ballermann-Niveau“ war 1984 allgegenwärtig. Heute hat sich Sylt klar im Premium-Segment positioniert, wenngleich die Debatte um „Overtourism“ und die Balance zwischen Lebensqualität für Insulaner und Gastfreundschaft aktueller denn je ist.
- Der Zusammenhalt: Ein Aspekt scheint zeitlos: Wenn die Inselgemeinschaft das Gefühl hat, ihre Identität werde von außen bedroht, rückt sie zusammen. Der Widerstand der Rantumer und Westerländer Verwaltung in den 80ern spiegelt sich heute in Initiativen wider, die sich für den Erhalt der friesischen Kultur und bezahlbaren Wohnraum für Einheimische einsetzen.
Die Episode um den Bottroper Unternehmer bleibt eine Mahnung in der Inselgeschichte. Sie zeigte frühzeitig auf, wie begehrlich Sylt ist – und dass der Ausverkauf der Insel keine Erfindung der Neuzeit, sondern eine wiederkehrende Herausforderung ist, der sich jede Generation von Syltern aufs Neue stellen muss.



Post Comment