Es reicht. Was sich Pendler auf der Strecke nach Sylt seit Jahren bieten lassen müssen, wäre in jedem anderen Ballungsraum Grund für einen Volksaufstand. Dass Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther nun laut darüber nachdenkt, den Autozugverkehr einzuschränken, ist kein Angriff auf die Freiheit des Autofahrers, sondern ein längst überfälliger Akt der Notwehr. Es ist der Versuch, Ordnung in ein System zu bringen, das völlig aus den Fugen geraten ist.
Die Absurdität der leeren Waggons Man muss sich die Szenerie auf der Zunge zergehen lassen: Wir haben eine der marodesten, eingleisigen Hauptstrecken Deutschlands. Und auf dieser Strecke leisten wir uns den Luxus, Luft spazieren zu fahren. Dass DB und RDC regelmäßig Züge über den Damm schicken, auf denen man die geladenen Autos an einer Hand abzählen kann, ist eine Provokation für jeden, der im überfüllten RE6 auf ein freies Gleis wartet. Diese „Geisterzüge“ sind Symbole einer gescheiterten Privatisierung, bei der der Wettbewerb zum Selbstzweck wurde und den gemeinwohlorientierten Verkehr kannibalisiert. Wenn Günther hier den Riegel vorschiebt und sagt: „Wer nicht voll ist, fährt nicht (oder seltener)“, dann ist das genau die richtige Antwort. Trassen auf dem Hindenburgdamm sind Goldstaub – wir sollten sie nicht verschwenden, nur damit zwei Konzerne ihre Revierkämpfe austragen können.
Zustände wie im 19. Jahrhundert Noch beschämender als die betrieblichen Abläufe sind die baulichen Zustände für die Fahrgäste. Während die Insel Sylt für Luxus und Komfort steht, beginnt die Reise für ihre Arbeitskräfte oft unter Bedingungen, die man eher im 19. Jahrhundert verorten würde. Dass es an Knotenpunkten wie Niebüll oder Klanxbüll kaum adäquate, beheizte Unterstellmöglichkeiten gibt, ist respektlos gegenüber denen, die täglich zur Arbeit pendeln. Die Menschen werden im Regen stehen gelassen – sprichwörtlich und politisch. Sie frieren, werden nass und krank, weil ein Zug ausfällt oder warten muss, damit ein fast leerer Autozug passieren kann. Diese Prioritätensetzung ist moralisch bankrott.
in Weckruf für Berlin und die Bahn Natürlich ist die Reduzierung der Autozüge nur ein Pflaster auf einer klaffenden Wunde. Die eigentliche Heilung bringt nur der zweigleisige Ausbau. Aber bis dahin gilt: Menschen vor Maschinen. Es ist richtig, den „Geisterverkehr“ zu beenden, um Puffer für den RE6 zu schaffen. Es ist richtig, den Pendlern, die die Wirtschaft der Insel tragen, Vorrang zu geben. Daniel Günthers Plan ist ein Eingeständnis des Scheiterns der bisherigen Infrastrukturpolitik – aber in der aktuellen Notlage ist es die einzige Entscheidung, die noch einen Funken Vernunft in sich trägt.
